Liebesgeschichte | Das Papier

Liebesgeschichte | Das Papier
Liebesgeschichte | Das Papier

Die Rezension des Buches von Gérard Thomas, erschienen bei Edizioni Clichy (168 S., 15 Euro)

Unter diesem Himmel hat alles seine Zeit. Es ist eine wunderbare Erleichterung, die Kohelet in der Bibel rezitiert: Es gibt eine Zeit zum Säen und eine Zeit zum Ernten, genauso wie es eine Zeit zum Hassen und eine Zeit zum Lieben gibt. Und gerade in letztere Zeit versenkt Gérard Thomas seine Feder, mit der Klarheit der Bezauberung, aber auch und vor allem der Ernüchterung, mit scharfer Ironie, tiefer Sensibilität und außergewöhnlicher Intelligenz. Der Titel ist Absichtserklärung, Formel und Schlüssel zur Erzählung: Liebesgeschichte. Aber Thomas bietet keine chronologisch geordnete Sichtweise, sondern eher eine Denken, das seine Wurzeln in Literatur, Mythologie, Philosophie, Wissenschaft, Theologie und Physik hat, ausgehend von drei Theoremen: „Liebe ist der Motor der Welt. Liebe ist die metaphysischste Sache im Universum. Die Liebe ist ein unentbehrlicher, wunderbarer und gefährlicher Abgrund“. Das Navigieren auf den Seiten dieser Gewässer setzt einen Bewusstseinspakt voraus: sich verirren, sich selbst finden, nachdenken, weinen, lachen. Thomas analysiert, beobachtet und orchestriert eine Polyphonie von Stimmen, die Geschichten, Ideen und Vorschläge von Autoren, Philosophen, Wissenschaftlern, Denkern wie Einstein, Hesiod, Nietzsche, Aischylos, Flaubert, Homer, Jesus und Maria von Nazareth, Kundera, Siddharta berichten. Jedes Kapitel ist eine Dimension, die in der Erfahrung menschlicher Beziehungen abnimmt: Anziehungskraft, vom ersten Kuss bis zur Energie der Begegnung zweier Körper. Freiheit: zwischen Flucht, Stolpern, Rückkehr und kulturell und gesellschaftlich bedingten Idealkonstruktionen von Paarbeziehungen. Konflikt: Was bleibt, wenn seine Ursachen Trümmer und Wunden hinterlassen. Himmel: Liebe in den Religionen, zwischen Monotheismus, Hinduismus, Pantheismus und Panentheismus. Gewicht: Der empfindliche Ausgleichsmechanismus aus zwei spezifischen Gewichten. Wunsch: in verbaler und chemischer Sprache, die der Wortschatz nicht ausdrücken kann. Und wir werden auch durch das Fließen von Beziehungen gehen, Mauern, die einengen, Lücken, die es zu füllen gilt, Worte, die es zu erzählen gilt, bis hin zu der Möglichkeit: Seine Wege sind endlos, aber den richtigen zum Leben zu finden, ist ein Geschenk. Thomas skizziert die Liebe als Blickrichtung – und nicht als Ziel – an der wir uns ein Leben lang orientieren, mit Müdigkeit in den Schritten oder im Rausch des Schwungs, mit Vertrauen und Kampf, zerbrochen oder ganz in uns selbst voranschreitend. „Können Sie sich etwas Mächtigeres vorstellen? Ich nicht“, antwortet er. Jedem die Suche nach eigenen Antworten und noch nicht gestellten Fragen.

Gerhard Thomas
Liebesgeschichte
Clichy Editions, 168 S., 15 Euro

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