Die Besprechung des Buches von André Gide, erschienen bei Mattioli 1885 (100 S., 10 Euro)
Trotz des Kriegsklimas, in dem Marokko André Gide er zog sich von 1944 bis ’46 in das Haus seines Freundes Jacques Heurgon zurück, ein Ort des Exils und der Meditation. Dort widmete sich Gide ein Jahr nach der Verleihung des Nobelpreises der Abfassung seines Theseus. Der Klassizismus, ein Stoff, der im frühen 20. Jahrhundert fast überall zu finden ist – von Eliot bis Borges –, erscheint so auch im Werk des französischen Autors, in einer Verklärung mit jakobinisch-protestantischem Einschlag.
Tatsächlich ist Gides Theseus ein schamloser, ungeduldiger und ironischer, schurkischer und eigensinniger, dessen Erzählung autobiografische Erwägungen mit der allegorischen Geschichte mischt. Die Geschichte ist immer die gleiche – Theseus, Minos, Ariadne, Dädalus, der Minotaurus und so weiter – und selbst die metaphorische Umsetzung, die für zeitgenössische Neuinterpretationen des Mythos typisch ist, bleibt nie verborgen. Wie in der berühmten Geschichte von Borges, die mit der von Gide zeitgleich ist, nimmt die Geschichte einen symbolischen Wert an und nichts ergibt nur so einen Sinn, wie es erscheint. Und doch verzichtet Gide, anders als der argentinische Schriftsteller, auf jegliches Drama oder ernsthaftes Getue: Sein Theseus ist ein opportunistischer und trügerischer Held, hastig und entschieden unsentimental. Von der Beziehung zu ihrem Vater („Ägäis war mir im Weg, besonders als er auf die unglückliche Idee kam, eine zweite Jugend aufzubauen und damit meine Karriere zu behindern“) bis hin zu Arianna, hier ein albernes und anhängliches Mädchen („diese krankhafte Sensibilität von ihr wurde bald unerträglich”), zielt Theseus Handeln darauf ab, alle möglichen Hindernisse für die Erfüllung seines eigenen Schicksals abzuschütteln, dem er nicht entkommen kann und will. In seinem Egoismus ist Gides Held tatsächlich immer in die Zukunft projiziert: “Es ist so: Ich war immer weniger angetan oder interessiert an dem, was ich gerade getan hatte, als angezogen von dem, was mich erwartete”. Aber obwohl dieser Theseus das Bedürfnis verspürt, sein Schicksal um jeden Preis und zum Schaden anderer zu verfolgen, gleicht das Ergebnis, oder vielmehr die Position, aus der er spricht, eher der Leere einer Niederlage als dem Erfolg einer Leistung. Die Metaphysik von Ikarus ignorierend, die luxuriösen Wünsche des Labyrinths, die Warnungen von Daedalus, die Launen von Ariadne und mehr überwindend, erzählt der Held seine eigenen Taten aus einem Zustand der Einsamkeit heraus, der ebenso beängstigend wie perfekt ist. Und genau hier, inmitten der ironischen und groben Überlegungen von Theseus, alt wie sein Autor, verwandelt sich der Text in eine tiefgründige Meditation über die Bedeutung des Todes als Erfüllung des eigenen Schicksals.
André Gide
Theseus
Mattioli 1885, 100 Seiten, 10 Euro