Harry Seidel, der Radfahrer an der Berliner Mauer, schaffte es, mehr als 100 Menschen aus der DDR zu fliehen [biografia]

Harry Seidel, der Radfahrer an der Berliner Mauer, schaffte es, mehr als 100 Menschen aus der DDR zu fliehen [biografia]
Descriptive text here

Harry Seidel wurde am 2. April 1938, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, in Berlin geboren. Seine Jugend verbrachte er im Bezirk Prenzlauer Berg im Osten der Stadt. Nach Kriegsende wurde dieser Bereich Berlins zunächst von Stalins Sowjetunion und dann ab 1949 direkt von der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR, von Deutsch) verwaltet Deutsche Demokratische Republik). Die DDR war ein sozialistisch geführter diktatorischer Staat, der sich stark vom demokratischen und liberalen Westdeutschland (BRD) unterschied. Bundesrepublik Deutschland). In diesem Land ist die einzige Partei, die SEDDas zentralisierte politische Leben und jede Form von Meinungsverschiedenheiten wurden mit Gewalt unterdrückt.

Schon in jungen Jahren widersetzte sich Seidel der drängenden politischen Indoktrination im Bildungssystem der DDR und brach aus diesem Grund sein Studium ab. Anschließend begann er als Elektriker zu arbeiten und pflegte weiterhin seine große Leidenschaft: das Bahnradfahren, eine Sportart, in der er sich hervorgetan hat. Er gewann mehrere Kommunalmeisterschaften in Ost-Berlin und triumphierte 1959 auch bei der Bundesmeisterschaft im „Zweier-Mannschaftsreiten“, einer Disziplin des Bahnradfahrens.

Seidel war ein sehr erfolgreicher Sportler und die überregionale Presse und das Staatspropagandaministerium nutzten sein Image oft instrumentell und zu Propagandazwecken. Überraschenderweise wurde er jedoch nicht für die Olympischen Sommerspiele 1960 in Rom einberufen, an denen er wohlverdient teilgenommen hätte. Die Gründe für die Nichteinberufung waren unterschiedlich und spalten bis heute die Geschichtsschreibung: Einigen zufolge wurde Seidel nicht nach Rom geschickt, weil er sich weigerte, anabole Steroide einzunehmen (eine unter DDR-Sportlern weit verbreitete Praxis); Anderen Quellen zufolge konnte der Berliner Radsportler jedoch aus „politischen Gründen“ nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen, da er eine Abneigung gegen das Regime von Walter Ulbricht (dem Sekretär des Bundes) hatte SED) es war bekannt.

Die Nichteinberufung zu den Olympischen Spielen bedeutete für Seidel einen unwiederbringlichen Bruch, so dass er beschloss, sein Ostberliner Team zu verlassen, um weiterhin bei den Olympischen Spielen anzutreten Grünweiß von Westberlin. Erst später, im April 1961 (vier Monate vor Beginn des Mauerbaus), beschloss Seidel, sich vom Sport zurückzuziehen und als Zeitungskurier in West-Berlin zu arbeiten. Jeden Tag erreichte der inzwischen ehemalige Radfahrer den Westteil der Stadt und kehrte dann abends zu seiner Frau Rotraut und seinem Sohn André nach Ost-Berlin zurück, als der 13. August 1961 ein Datum war, das sich in die Erinnerung der deutschen Hauptstadt eingebrannt hatte der gesamten Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ziel, das Problem der zahlreichen Ost-West-Migrationen endgültig zu lösen, beschloss das sozialistische Regime über Nacht, einen „antifaschistischen Schutzwall“ – wie die Berliner Mauer in Ostdeutschland definiert wurde – zu errichten. Die Stadt wurde durch einen Stacheldrahtzaun in zwei Teile geteilt, Tag und Nacht von Grenzschutzbeamten überwacht und Reisen von Ost nach West verboten.

Noch am Tag des Mauerbaus gelang Seidel die Flucht in den Westen, kehrte dann aber sofort wieder nach Hause zu seiner Familie zurück. Einen Monat später, im September 61, gelang dem Radfahrer erneut die Flucht nach West-Berlin zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn. Nach der Flucht, die durch einen Spalt im Stacheldraht erfolgte, wurden die Familienangehörigen des Ehepaars Seidel ausführlich verhört und von der Stasi, dem Ministerium für Staatssicherheit, das mit seinem schrecklichen Spionagenetzwerk jede Aktion der Bewohner überwachte, verhaftet Ostdeutschland In der Zwischenzeit hatte Seidel beschlossen, sich nicht darauf zu beschränken, seine Familie in Sicherheit zu bringen, sondern zur Flucht aller beizutragen, die die Mauer überqueren und in den westlichen Teil der Stadt gelangen wollten. Dank des Schlitzes auf der Kiefholzstraße – von dem aus der Radfahrer mehrfach die Grenze überquert hatte und von dem aus seine Frau und sein Sohn die Grenze passieren durften – gelang es Seidel, 34 Menschen aus Ost-Berlin zu fliehen.

Kurz darauf wurde der Stacheldraht repariert und die Mauer verstärkt. Im Dezember 1961 wurde Seidel am Brandenburger Tor verhaftet, weil er Lücken im Zaun geöffnet und die Lichter zerstört hatte, mit denen die DDR-Wachen Flüchtlinge identifizieren konnten. Dem Radfahrer gelang die Flucht durch einen Sprung aus dem Fenster des Gebäudes, in dem er festgehalten wurde, und er gelangte sicher nach West-Berlin zurück. Als Seidel an diesem Punkt angelangt war, begriff er, dass die einzige Möglichkeit, die Flucht der Bürger Ostberlins zu organisieren, der Bau unterirdischer Tunnel sein würde. Im Januar 1962 versuchte er im Treptower Raum seinen ersten Tunnel zu bauen, doch ein Wasserleck machte ihn unbrauchbar.

Anschließend schloss er sich mit Fritz Wagner zusammen, einem Fluchthelfer aus West-Berlin, der – anders als Seidel, der ausschließlich von idealistischen und humanitären Motiven getrieben war und stets eine Entschädigung für sein mutiges Handeln verweigerte – dafür bezahlt wurde, den Deutschen aus dem Osten bei der Flucht zu helfen . Im März 1962 vollendeten Wagner, Seidel und Heinz Jercha (ein weiterer Fluchthelfer) ihren ersten Tunnel Heidelberger Straße; Die Gruppe traf die Flüchtlinge im Osten und erreichte gemeinsam mit ihnen, schweigend mehrere Dutzend Meter weit kriechend, West-Berlin. Die Aktionen von Seidel und seinen anderen Helfern gerieten jedoch bald ins Visier der Stasi, die am 27. März 1962 einen Überraschungsangriff plante. Jercha wurde von Stasi-Agenten getötet, Wagner und Seidel gelang die Flucht und die Rückkehr nach West-Berlin. Der Tunnel wurde geschlossen, es wird jedoch geschätzt, dass noch zwischen 35 und 59 Menschen durch den Tunnel die BRD erreichen konnten.

Im Mai desselben Jahres arbeitete Seidel am Bau eines 75 Meter langen Tunnels in Treptow. 55 Menschen gelangten damit in den Westteil der Stadt, bevor die Stasi ihn entdecken und unzugänglich machen konnte. Heute erinnert eine Gedenktafel, die 2006 im Beisein von Seidel selbst eingeweiht wurde, an die Geschichte dieses Tunnels der Erlösung und Hoffnung. Im Juli 1962 beteiligte sich der Radfahrer am Bau eines neuen Tunnels, doch ein Spitzel enthüllte den Plan der Stasi und die 60 im Osten wartenden Menschen wurden verhaftet. Seidel war inzwischen zum „Staatsfeind“ der DDR geworden und stellte für das Ulbricht-Regime eine um jeden Preis zu beseitigende Bedrohung dar.

Im November 1962 überfiel die Stasi Seidel am Ende eines 70 Meter langen Tunnels, den der Radfahrer in Kleinmachnow baute. Seidel wurde sofort verhaftet und vor dem Obersten Gerichtshof der DDR angeklagt. Die Anhörungen waren eine echte Farce und wurden vom Regime zu Propagandazwecken genutzt. Tatsächlich wurde angenommen, dass die Veröffentlichung des Prozesses gegen den berühmten Radfahrer Flüchtlinge aus dem Osten davon abhalten könnte, das Land zu verlassen. Seidel, der in den Verhandlungen sogar mit den in Nürnberg angeklagten NS-Verbrechern verglichen wurde, wurde daraufhin wegen Verstoßes gegen das „Gesetz zum Schutz des Friedens“ zu lebenslanger Haft verurteilt.

Das Urteil löste in der westlichen Welt heftige Kontroversen aus, und Willy Brandt, der damalige Bürgermeister von West-Berlin, kommentierte: „Es gibt nicht genug Worte, um die Empörung über dieses beschämende Urteil der modernen Inquisition eines ungerechten Staates auszudrücken.“ Seidel wurde zunächst im schrecklichen Gefängnis Hohenschönhausen und dann in Brandenburg inhaftiert. In West-Berlin organisierte seine Frau Rotraut unterdessen täglich Proteste, um die Freilassung ihres Mannes zu fordern. 1966, vier Jahre nach Beginn seiner Haft, wurde Seidel von der BRD-Regierung freigekauft und anschließend freigelassen. Er kehrte sofort nach Westberlin zurück, wo er mit seiner Familie wieder zusammenkommen und wieder als Bahnradfahrer an Wettkämpfen teilnehmen konnte. 1973 gewann er im Alter von 35 Jahren die deutsche Meisterschaft im Mannschaftszeitfahren.

Nach der Wende sagte Seidel vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Geschichte und den Folgen der Diktatur in Ostdeutschland aus. 2012 wurde der Radsportler jedoch mit dem renommierten Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Harry Seidel starb am 8. August 2020 in Berlin. Heute kann seine Geschichte in der Gedenkstätte Berliner Mauer in Berlin eingesehen werden Bernauer Straßewo eine Tafel ihn auf einem Foto porträtiert und erzählt, wie Harry Seidel, dem Regime trotzend und mehrmals riskierend, sein Leben zu verlieren, zur Flucht von mehr als 100 Menschen aus der diktatorischen DDR in die demokratische Westdeutschland beigetragen hat.

Titelbildnachweis: Bundesarchiv, Bild 183-52567-0004/CC-BY-SA 3.0

PREV Ab dem nächsten Jahr wird das Arsenal der Frauen dauerhaft im Stadion der Herrenmannschaft spielen
NEXT „Ich würde die Arbeit nie wegen meiner Kinder aufgeben, auch wenn ich sie sehr liebe.“